Chile im Wandel

Die meisten Menschen werden, wenn sie an Chile denken, nur ein Land in Lateinamerika vor Augen haben. Für sie ein Land, das zwar immerhin als das fortschrittlichste aller dieser Länder gilt, aber eben nur Lateinamerika….. read more. Ja, natürlich. Ein tolles Reiseziel. Der Torres del Paine Nationalpark, der als das Achte Weltwunder gilt, die Atacama Wüste, die für viele sehr europäisch anmutende Hauptstadt Santiago de Chile, die bunte und lebendige Hafenstadt Valparaíso. Für Liebhaber südamerikanischer Kultur und unberührter Natur, die eine gewisse Sicherheit schätzen, als Touristenziel optimal. Aber in Chile leben? In einem lateinamerikanischen Schwellenland?

Unerwartet brachen im Oktober 2019 Proteste los. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Eine Fahrpreiserhöhung der Metro in Santiago um 30 Pesos. Die aufgestauten eigentlichen Gründe, die seit Jahren brodelten: die extreme soziale Ungleichheit und die politische Führung, die dieser über Jahre und Jahrzehnte hinweg nicht hinreichend begegnet war.

Und viele Auswanderungswillige, die Chile als Ziel in Erwägung gezogen hatten, waren angesichts dieser Nachrichten völlig verunsichert, vielleicht auch zu Recht. Ist es wirklich eine gute Idee, aus dem „sicheren“ Europa nach Südamerika zu ziehen?

Die Regierung geriet zunehmend unter Druck und politisch begann es hinter den Kulissen zu rumoren. Das Resultat der Präsidentschaftswahlen ca. zwei Jahre später war eine Stichwahl zwischen dem linksorientierten Gabriel Boric und dem rechtskonservativen José Antonio Kast, nach deren Ende Boric deutlich die Nase vorne hatte.

Der Ursprung dieses Erfolges von Gabriel Boric liegt in früheren Protestbewegungen, bei denen er als Studentenführer für eine fairere Regelung bei den Studiengebühren und eine bessere soziale Gerechtigkeit eingetreten war. Damals von der Presse noch als kommunistischer linksradikaler Tätowierter abgestempelt, geht heute, nach seiner tatsächlichen Wahl, die Berichterstattung eher ins positive, sowohl in Chile selbst, als auch im Ausland.

Boric ist ganze 36 Jahre alt. Er ist somit der jüngste Präsident in Chiles jüngerer Geschichte und hat entschieden, im Barrio Yungay in Santiago zu wohnen, ein Viertel, das eher für kulturelle Vielfalt bekannt ist als für luxuriösen Lebensstil.

Sein Programm sieht vor, ein staatliches Gesundheits- und Rentensystem einzuführen und generell die sozialen Rechte zu stärken und auszuweiten. Wichtig sind ihm auch die Themen Umweltschutz, ein verbesserter Dialog mit den indigenen Mapuche und mehr Rechte für Frauen. Letzteres ist durch die Besetzung der Mehrheit aller Ministerposten durch Frauen jetzt schon deutlich spürbar. Boric ist der Hoffnungsträger einer jungen, vorwärtsstrebenden Generation, und scheint nach heutiger Einschätzung eine soziale Demokratie, wie wir sie aus Deutschland kennen, anzuvisieren.
Die neue Verfassung, die derzeit in Bearbeitung ist, wird in ihrem Prozess von ihm begleitet werden, im September 2022 wird über diese mithilfe eines Referendums abgestimmt werden.

Die Pandemiesituation, ausgelöst durch SARS-CoV-2, hat das Land mittlerweile verhältnismässig gut im Griff. Nach einer harten und von vielen Quarantänesituationen geprägten Zeit, insbesondere im zweiten Pandemiejahr, ist die Lage in Chile momentan im Vergleich mit anderen Ländern sehr entspannt. Der grösste Teil der Bevölkerung erfüllt seit Beginn der Impfkampagne das empfohlene Impfschema, in der Öffentlichkeit werden nach wie vor Masken getragen, Desinfektion und Thermometer stehen überall zur Verfügung. Kleine Einschränkungen, die den normalen Tagesablauf kaum behindern.
Die Normalität kehrt langsam zurück in Chile. Allgemeine Impfpflicht gibt es keine, in öffentlichen Transportmitteln und bestimmten Situationen bzw. Einrichtungen aber noch vorgeschrieben. Für Ausländer muss die Impfung als sogenannter „pase de movilidad“ validiert werden. Derzeit fragt man die jeweils geltenden Einreisebestimmungen am einfachsten bei der jeweiligen Fluggesellschaft ab.

Angesichts der weltweiten Lage macht Chile derzeit einen stabilen Eindruck. Sowohl politisch wie auch wirtschaftlich, ebenso im Hinblick auf die Pandemiesituation. Vielleicht kommt der ein oder andere angesichts dieses Ausblickes ja doch noch auf die Idee zurück, nach Chile auszuwandern.
Dr. D. Woll